Filippa Gojo SOLO – vertraum

15.00

Artikelnummer: 2

Beschreibung

Filippa Gojo – Gesang, Kalimba, Shruti Box

vertraum
Ver- ist ein tolles Ding. Es macht manche Wörter zu Verben. Veröffentlichen beispielsweise. Manche Wörter macht es zu Adjektiven. Man denke an verspielt, versöhnlich oder eben verträumt. Der Rat aber wird zum Verrat, spielen zu verspielen, also plötzlich verkehrte Welt durch diese unscheinbare Buchstabentrias. Tja, vertrackt. Was also tun mit dem Titel von Filippa Gojos Soloalbum „vertraum“?
Vielleicht weniger intellektuell, mehr aus dem Bauch respektive dem Ohr heraus muss man ihn begreifen. Phonetisch betrachtet ist „vertraum“ immerhin der eineiige Zwilling von Vertrau’n. Was aber, wenn es genau diese Dialektik von Herz und Hirn ist, die das Album der Stimmkünstlerin (nein, Sängerin greift definitiv zu kurz) bestimmt? Dem minimalistischen Zauberkasten der jungen Frau – einzig sie ist auf dem Album zu hören und was gleichzeitig erklingt, wurde auch simultan aufgenommen – entspringen nämlich höchst unterschiedliche Kunst-Stückchen.
Vielfältig das Klangspektrum: Mal rauscht sie wie der Wind, stottert mit der Akkuratesse einer hüpfenden Schallplatte oder zeigt virtuose Intervallsprungeinlagen wie eine Königin der Nacht jedoch mit Kinderflausen. Dazwischen aber streichelt einem bergseeklares Elfen-Belcanto die Ohren. Vielfältig ist auch die Konzeption der Stücke: Manche der vorwiegend eigenen Kompositionen sind eher Soundcollagen, Musterstudien, metrische Experimente und springen leichtfüßig über das 3- Minuten-Popmusik-Limit oder ducken sich kokett darunter weg. Andere hören sich an wie der Soundtrack zum Norwegenurlaub oder einer Reisereportage aus Mittelerde. Man sieht es beim Lauschen förmlich vor sich: Steil aufragende Berge rechts und links, ein stilles dunkles Fjordwasser und irgendwoher tönt die reine Stimme dieser Bodenseeloreley mit einer Unaufgeregtheit, wie sie nur Menschen haben können, deren Kindheitsuniversum nicht bloß aus Beton und Playstation bestanden hat.
Es ist egal, ob hoher Norden, naher Osten oder eben die Alpen: Eine anmutige Stimme mit minimalster oder gleich gar keiner Begleitung (wie auf diesem Werk verewigt) wirkt auf alle Menschen hypnotisch. Ihre Magie ist archaisch, zeit- und grenzenlos. Ihre Faszination kennt weder Nationalität noch Politik. So betrachtet ist ein Muezzin in Tromsö ebenso wenig widersprüchlich wie eine Vorarlbergerin in Köln. Vielleicht hat Filippa Gojo 2014 das Horst-und-Gretl-Will-Stipendium auch deshalb bekommen, weil sie im Grunde als eine der wenigen wirklich universell verständliche Musik macht. Ohne Genrediktat, ohne Jahrzehnt, ohne konkrete Vorbilder: Weltmusik im ureigentlichen Sinn – auch wenn sie auf dieser Solo-Platte neben der Weltsprache Englisch hauptsächlich im ihr vertrauten alemannischen Idiom singt.
Die anfängliche Frage bleibt offen: Steht „vertraum“ nun für das Ende eines Traums oder gerade für das Vertrauen auf ein gutes Ende? Selbst wenn so manche Nummer Melancholie versprüht, die Schlussverse eines programmatischen Titels wirken wie das Credo moderner Titanen: „Trusting the uncertainty, relying on all that’s new for me.“

Peter Mußler